Die biblischen Psalmen, 150 poetische Texte, sind sehr bedeutend für die Spiritualität und Liturgie in der Geschichte des Christentums. Es handelt sich um die meist verwendeten und kommentierten Texte der Bibel überhaupt und sie wurden sehr oft als Gebets- und Meditationsbuch verwendet.
Ein interessanter Kommentar zu diesen Psalmen sind die griechischen Expositiones in Psalmos (ExpPs) vom Anfang des fünften Jahrhunderts n.Chr.; sie bieten eine Auslegung dieser Psalmtexte in der Tradition der alexandrinischen Theologie. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der geistlichen und asketischen Interpretation im Rahmen der allegorischen Auslegung. Dieser Kommentar wurde dem berühmten Theologen Athanasius von Alexandria (†373 n.Chr.) zugeschrieben, stammt aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von ihm selbst, sondern wurde in der Tradition seiner Theologie eine Generation später geschrieben. Er ist daher ein Beispiel für Pseudepigraphie.
Das Werk selbst ist jedoch nicht in einer direkten Überlieferung erhalten geblieben, sondern muss mit Hilfe der Psalmenkatenen, in denen Sequenzen von Auszügen aus verschiedenen patristischen Kommentaren passend zu den biblischen Versen gesammelt werden, erst rekonstruiert werden. Dies ist bisher noch nicht geschehen, denn die letzte Ausgabe der ExpPs, die vom Mauristen Montfaucon 1698 vorgelegt wurde, vereint authentisches und unauthentisches Material, was diese Ausgabe heute unbrauchbar macht. Eine dringend benötigte kritische Edition füllt überdies eine große Lücke unter den Psalmenkommentaren der Spätantike.
Das Projekt wird eine neue digitale kritische Edition der ExpPs zu den Ps 1-50 erstellen. Eine sorgfältige Analyse mehrerer Katenen muss das Material erst bewerten, den komplexen Überlieferungsprozess der Katenen-Sammlungen verstehen, ferner orientalische Übersetzungen einbeziehen und die Verbindungen zwischen den ExpPs und anderen Psalmenkommentaren, insbesondere des Eusebius von Cäsarea (†337 AD), erforschen.
Das Projekt vereint philologische, kodikologische und exegetische Methoden mit neuen Ansätzen in den digitalen Geisteswissenschaften, um einen Standard für digitale kritische Editionen zu entwickeln. Diese neuen Möglichkeiten bieten die Chance, die verschiedenen Überlieferungsebenen der ExpPs (Manuskriptebene, Katenen-Typen-Ebene, ExpPs-Ebene) darzustellen, das sehr komplizierte Katenen-Material zu erforschen und zu visualisieren und diese Texte in ein neues digitales Archiv antiker Texte aufzunehmen.
Bei dieser Edition handelt es sich um "Gundlagenforschung" und es werden neue Wege beschritten, da
a) die Veröffentlichung hauptsächlich in digitaler Form erfolgt,
b) eine zentrale Rolle in der Katenenforschung erfüllt,
c) Pionierarbeit leistet bei der Auswertung der Pseudepigraphie des Athanasius,
d) und wesentlich zur Geschichte der Exegese, Theologie und Spiritualität beiträgt.
Das Projektteam besteht aus der Projektantragstellerin Uta Heil und den Mitarbeitern Sebastiano Panteghini (Griechische Philologie), einem weiteren Philologen (n.n.) und einem IT-Experten für die digitale Technik und Experten für orientalische Sprachen (Arbeitsverträge). Das Team wird in Kooperation mit dem Österreichischen Zentrum für Digitale Geisteswissenschaften, Tara L. Andrews (ÖAW), und mit der "Arbeitsstelle: Die alexandrinische und antiochenische Bibelexegese der Spätantike" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Christoph Markschies und Annette von Stockhausen arbeiten.